Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Das Exempel von Potsdam

Potsdam - Ernyas M. wird in Potsdam von zwei Tätern überfallen und ins Koma geprügelt. Die Attacke ist weder ein Brandenburger Problem, noch zeigt sie eine neue Qualität der Gewalt gegen Ausländer. Sie ist der brutale Alltag. Allerdings offenbart der Fall eine neue Qualität der Empörung - und ein Dilemma der Integrationspolitik.

Der 37-jährige Deutsch-Afrikaner, der gestern weiter im künstlichen Koma in Lebensgefahr schwebte, gerät zum Exempel für den Umgang mit rassistischen Gewalttaten und -tätern.

Der erste Aufschrei kam von 500 Potsdamern, die nach der Tat auf die Straße gingen. Jetzt fahndet die Polizei mit einer Sonderkommission, die auf 25 Mann aufgestockt wurde, veröffentlichte das Band mit den Täterstimmen und bietet 5000 Euro für Hinweise. Inzwischen gibt es auch ein Spendenkonto für das Opfer.

In Politik und Verbänden wechseln sich Vorwürfe und Vorschläge ab. Der Zentralrat der Juden sieht die Attacke als das "Ergebnis einer verfehlten Jugend- und Bildungspolitik". Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte nach der "menschenverachtenden Tat" eine "angemessene Antwort" an - etwa mit der Fortsetzung eines Bundesprogramms gegen Rechts. Die Fahndung nach den Tätern ist längst Chefsache.

Ungewöhnlicherweise ermittelt Generalbundesanwalt Kay Nehm.

Schließlich könne der Überfall die innere Sicherheit der Bundesrepublik gefährden und habe eine "besondere Bedeutung".

Nur selten gab es nach derartigen Attacken eine solche Reaktionswelle.

Aber warum? Die "besondere Bedeutung" liegt nicht nur im Fall selbst.

Ausgerechnet in der Integrations-Debatte wird ein gebürtiger Äthiopier, ein Familienvater und Ingenieur, der seit 19 Jahren in Deutschland lebt und integriert ist, fast totgeprügelt. Aus einem banalen Grund: Seiner Hautfarbe.

Jene Politiker, die über integrationsunwillige Ausländer wettern und neue Hürden mit quälenden Fragekatalogen setzen wollen, sehen sich jetzt mit dem Problem konfrontiert, das auf der anderen Seite lauert:

Integration ist keine Einbahnstraße, wie auch Innenminister Wolfgang Schäuble gestern einräumte. Soll heißen: Was nützen Einbürgerungstests, wenn sich Ausländer davor fürchten müssen, verprügelt zu werden, statt sich willkommen zu fühlen. Das Merkmal "integrationsunwillig" haftet vielmehr den Schlägern an. Denn auch wenn Potsdams Bürgermeister Jann Jakobs von einer "überraschenden" Tat und einer "neuen Qualität" sprach, trifft dies nicht die Realität.

Allein in Brandenburg gab es im vergangenen Jahr 97 rechtsextreme Gewalttaten, bundesweit registriert das Bundesamt für Verfassungsschutz Jahr für Jahr mehr als 700 dieser Verbrechen. In Mecklenburg-Vorpommern wird in den 90ern ein Algerier erschlagen, in Dresden stirbt ein Afrikaner, in Halle wird ein Mosambikaner umgebracht, gerade erst prügelten drei Männer in Essen auf einen Inder ein ...

"Es kommt immer wieder zu solchen Übergriffen - im ganzen Land, egal an welchem Ort und zu welcher Zeit", so das ernüchternde Fazit von Ole Weidmann von der Organisation "Opferperspektive." "Es gibt einfach keine sicheren Zonen." Experten wie der Theologe Wolfram Hülsemann warnen vor den Versuchen Rechtsradikaler, Feuerwehren, Elternvertretungen und Jugendclubs zu unterwandern. Das Klima der Angst bekommen nicht nur die Ausländer selbst zu spüren. Laut Umfrage halten drei Viertel der Deutschen Fremdenfeindlichkeit für ein großes oder sogar sehr großes Problem.

Dieses Gefühl hat die Attacke von Potsdam jetzt in die Politik getragen und die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Das ist die "neue Qualität" am Fall Ernyas M.