Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Reden und Zuhören bringt Respekt

Die eigene Meinung zu vertreten ist nicht immer leicht. Auffassungen von sich und anderen in Frage zu stellen kann noch schwieriger sein. Beides ist wichtig für eine Demokratie. Im Rahmen des Programms Respekt Coaches ermutigt Gürcan Kökgiran Jugendliche zu streiten – aber mit Respekt.

„Respekt ist ein Thema, das die Jugendlichen beschäftigt“, so die Erfahrung von JMD-Mitarbeiter Gürcan Kökgiran.

Dienstag, siebte Stunde an der Adolph-Kolping-Schule in Schweinfurt. Gut zwanzig Jungen und Mädchen sitzen im Stuhlkreis und diskutieren über das, was sie gerade gesehen haben: Ein Vater hat seinen 17-jährigen Sohn wüst beschimpft und sogar nach ihm getreten, weil der nur nutzlos zuhause herumhänge.

Vater und Sohn waren Schauspieler in einem Rollenspiel, die Szene nur gestellt. Trotzdem klingen die Stimmen aufgeregt. „Man sollte die eigenen Kinder lieben und ihnen helfen“, empört sich ein Mädchen. Ein Junge entgegnet: „Er ist ein guter Vater. Er will, dass sein Sohn etwas aus seinem Leben macht.“ Dann kichert er verlegen: „Ist doch cool. Mein Dad reagiert noch schlimmer.“

Eine Diskussion entspinnt sich, bei der es nur eine Regel gibt: respektvoll miteinander umgehen. Immer wieder fragen die Theaterpädagogen nach der Wirkung des Wutausbruchs auf den Sohn, nach seinen Gefühlen, nach möglichen Alternativen. Schließlich steht ein 15-Jähriger auf und spielt die Rolle des Vaters auf seine Art – fragend, verständnisvoll, bemüht um eine Lösung.

Demokratie bedeutet, andere Meinungen auszuhalten

Gürcan Kökgiran sitzt am Rand und beobachtet zufrieden den Ablauf. Der 47-Jährige arbeitet beim Jugendmigrationsdienst (JMD) Schweinfurt und verantwortet dort das Programm Respekt Coaches. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Jugendlichen zum Nachdenken zu bringen. In mehreren Workshops mit erfahrenen Theaterpädagogen üben sie, ihre Meinung zu äußern, anderen zuzuhören und Überzeugungen kritisch zu reflektieren. Denn das Programm Respekt Coaches will ein respektvolles Miteinander fördern und das demokratische Selbstverständnis der Jugendlichen stärken. „Demokratie ist ja auch eine Form disziplinierten Streitens“, sagt Kökgiran.

Präventionskonzept nach den Bedürfnissen der Schule

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendmigrationsdienste führen das Programm an Schulen an bundesweit 168 Standorten durch. Initiiert wurde es von Bundesjugendministerin Franziska Giffey in Abstimmung mit den Ländern. Gürcan Kökgiran gehört zu den rund 200 Fachkräften, die dafür im Jahr 2018 geschult wurden. Sie erarbeiten gemeinsam mit interessierten Schulen Konzepte, die auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind. Workshops, Exkursionen und andere Gruppenangebote werden dann meist von Partnerorganisationen der politischen Bildung durchgeführt.

Durch eine selbstbewusste, demokratische Grundhaltung sollen die Jugendlichen auch gegen radikales Gedankengut gewappnet werden. Das Programm dient der Primärprävention: Die Mitarbeitenden der Jugendmigrationsdienste schreiten nicht erst ein, wenn es Probleme gibt, sondern legen Grundlagen für ein gutes Miteinander.

Desinteresse? Nicht beim Thema Respekt!

Die Schüler, mit denen Kökgiran an der Adolph-Kolping-Schule arbeitet, sind meist zwischen 15 und 18 Jahre alt und absolvieren ein Berufsvorbereitungsjahr. Viele haben Lernschwierigkeiten oder besonderen Förderbedarf im Bereich soziale und emotionale Entwicklung. Doch als der Workshop beginnt, sind sie ruhig und aufmerksam. „Respekt ist ein Thema, das die Jugendlichen beschäftigt. Allein der Begriff hat Interesse geweckt“, erklärt Kökgiran. Das theaterpädagogische Angebot hat er gewählt, weil es auch für diejenigen geeignet ist, die sich nicht so gut konzentrieren können. Zu seinen Workshops melden sich die Jugendlichen freiwillig.

Neben der Schulleitung arbeitet Kökgiran eng mit der Sozialarbeiterin der Schule zusammen. Jeden Donnerstag zwischen 9 und 16 Uhr steht er in der Schule für die Fragen und Anliegen der Jugendlichen bereit und dient so als zusätzlicher Ansprechpartner. Sein Erkennungszeichen ist der Kapuzenpulli, auf dem das Motto des Präventionsprogramms steht: „Lass uns reden! Reden bringt Respekt.“ Das kommt offenbar gut an: Zahlreiche Jungen und Mädchen grüßen, wenn der JMD-Mitarbeiter den Schulflur betritt.

„Ich gehöre dazu“

Dass Kökgiran einen guten Zugang zu den Jugendlichen hat, mag auch an seinem Werdegang liegen. „Ich gehöre zu den Kindern der ersten türkischen Gastarbeiter-Generation. Ambivalenz, fehlende Anerkennung, das Gefühl, nicht richtig respektiert zu werden und nirgendwo so richtig zugehörig zu sein, sind Teil meiner Biografie.“ Als Jugendlicher besuchte er eine Hauptschule, heute ist er promovierter Soziologe. Dazwischen lagen einige Umwege. 

Viele der Schülerinnen und Schüler, mit denen Kökgiran arbeitet, haben wie er einen Migrationshintergrund oder sind sozioökonomisch benachteiligt. Er will ihnen die Überzeugung mit auf den Weg geben: Ich gehöre dazu. Meine Meinung zählt. Ich kann diese Gesellschaft mitgestalten.

Lass uns reden! Auch im Netzwerk

Kökgiran plant weitere Kooperationen mit Schulen der Region. Langfristig will er ein Präventionsnetzwerk in Schweinfurt aufbauen, das verschiedenen Akteure versammelt. Im Alltag hilft ihm zudem das Netzwerk seines Jugendmigrationsdienstes, der seit vielen Jahren in der Region aktiv ist. Träger in Schweinfurt ist der Paritätische Wohlfahrtsverband. Deutschlandweit gibt es rund 460 Jugendmigrationsdienste in unterschiedlicher Trägerschaft, die junge Menschen mit Migrationshintergrund bei ihrem sozialen, schulischen und beruflichen Integrationsprozess unterstützen.

Respektvoll streiten – ohne Konsenszwang

Im Klassenraum der Adolph-Kolping-Schule neigt sich der Workshop dem Ende zu. Fast alle Schülerinnen und Schüler haben sich ein- oder mehrmals geäußert, auch die Stilleren. Manche sind selbst in die Rolle von Vätern, Ehefrauen oder Töchtern geschlüpft, haben Anerkennung, aber auch Widerspruch erfahren. Nach 90 Minuten sind sie sich nicht in allem einig. Es ist wie im echten Leben: Es gibt viele Meinungen.

Gürcan Kökgiran schaut zu, wie die Jugendlichen sich auf den Heimweg machen, einige ins Gespräch vertieft, manche gedankenversunken, andere mit Handschlag und einem fröhlichen „Danke, bis nächste Woche!“ Für ihn war es ein gelungener Nachmittag, denn das Wichtigste aus seiner Sicht ist: Sie haben nicht nur gestritten, sondern einander auch zugehört.

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Text und Bild: Servicebüro Jugendmigrationsdienste