Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Erzählen lernen in Darmstadt

Erzählen lernen in Darmstadt 

Wo individuelle Förderung und enge Netzwerke in einander greifen

 

Alfred

„Ich habe gedacht, ich habe keine Zukunft“, erzählt Alfred. „Und dann habe ich hier sehr viel gelernt. Zuerst im Sprachkurs, aber auch beim Bewerbungstraining, beim Computerkurs und bei den Ausflügen. Seit Oktober 2008 ist der 19-Jährige aus Sierra Leone in Deutschland. Damals sprach er kein Wort Deutsch und konnte sich nicht vorstellen, wie es einmal weitergehen sollte.

„Heute kann ich alleine zum Arzt gehen und brauche keinen Dolmetscher mehr. Aber ich will noch weiter kommen. Dafür brauche ich mehr Bildung und muss meine Sprache weiter verbessern.“ Am Jugendmigrationsdienst (JMD) mag Alfred nicht nur, dass man ihm immer weiterhilft, sondern auch, wie das passiert: unkompliziert und unbürokratisch. „Als ich neulich ganz dringend für die Schule eine Praktikumsstelle brauchte, dachte ich, ich schaffe das nie. Aber Frau Kostial hat mir geholfen und dann hat es innerhalb einer Woche geklappt. Das war so cool.“

Apropos cool: im Rahmen der Ausstellung „anders? - cool!“, die sich mit der Situation junger Migrantinnen und Migranten in Deutschland beschäftigt, organisierte Alfred eine kleine Fotoausstellung zum Thema „Kinderleben in Deutschland und Sierra Leone“. Mit seinen Fotos gewann er den ersten Preis. „Ich wollte zeigen, wie gut es die Kinder hier haben und dass Kinder in Sierra Leone arbeiten müssen. Ich habe dort als Kind auch gearbeitet. Hier fühle ich mich wie im Himmel.“ Was aus Alfred noch wird, weiß der begeisterte junge Mann selbst noch nicht. „Zuerst möchte ich noch mehr lernen und dann würde ich am liebsten etwas mit Medizin machen. Das wichtigste ist jetzt erst einmal, dass ich hier ein neues Zuhause und meinen neuen Weg gefunden habe. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Dankbar ist auch die 19-jährige Ashti aus dem Iran. Sie ist seit über einem Jahr in Deutschland und lebt seit einem halben Jahr in Darmstadt. Auch sie kam praktisch ohne Deutschkenntnisse und wurde von der Arge Darmstadt zum JMD geschickt. „Die Unterstützung beim Sprachkurs hat mir sehr geholfen. Ich hatte immer Angst ausgelacht zu werden.“ Inzwischen hat Ashti ihren B1-Sprachtest für die Einbürgerung mit 98 Prozent richtigen Ergebnissen abgeschlossen, also einer fast glatten Eins. Und auch sonst erntet sie für ihre neuen Kenntnisse den verdienten Respekt. „Wir organisieren alle unsere Termine selbst und lernen viel bei Ausflügen und Präsentationen. Ich bin sehr froh, hier zu sein. Hier ist alles anders. Hier gibt es Rechte und die Menschen sind freundlich zu uns. Und das Haus ist wie unser Zuhause. Hier wird uns bei allem geholfen.“ Auch ihren weiteren Weg sieht Ashti optimistisch: „Zuerst einmal möchte ich die Schule beenden und dann werde ich weitersehen.“

 

Synergieeffekte im heterogenen Raum

Der vom Internationalen Bund (IB) getragene JMD Darmstadt hat es in seinem Zuständigkeitsbereich mit einem sehr heterogenen Raum zu tun. Die Großstadt Darmstadt und der ländlich strukturierte Landkreis Darmstadt-Dieburg stellen die vier Mitarbeiterinnen, Barbara Bogner, Linda Greulich, Marion Kostial und Uschi Wilbert, die den JMD sowohl im Stadtgebiet Darmstadt als auch im Landkreis Darmstadt-Dieburg betreuen, vor besondere Herausforderungen. Ohne eine enge Verknüpfung des JMD-Angebotes mit den Berufsbildungsangeboten im IB Bildungszentrum Darmstadt, der Kompetenzagentur, den Angeboten im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ und einer engen Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Netzwerkpartnern an mehreren dezentralen Standorten (z.B. auch im Begleitausschuss von „STÄRKEN vor Ort“) wäre vieles nicht machbar. So heterogen wie der Zuständigkeitsbereich, ist auch die Zielgruppe. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die hier beraten werden, stammen aus etwa 40 verschiedenen Ländern. Sie bringen sehr unterschiedliche Voraussetzungen, Bildungsbiographien und Sprachkenntnisse mit.

Weil kein Schicksal dem anderen gleicht, steht beim JMD Darmstadt die individuelle Beratung auch an erster Stelle. Nur im Einzelgespräch kann für den Ratsuchenden der richtige Weg und die passende Förderung gefunden werden. Wie im individuellen Case Management, wird auch bei den Gruppenangeboten auf ein möglichst passgenaues Angebot geachtet. Das ergänzende Sprach- und Kommunikationstraining für die „Schülergruppe“ richtet sich vor allem an Schülerinnen und Schüler aus den umliegenden Schulen. In der „Übergangsgruppe“ werden vor allem 15- bis 26-Jährige mit wenig Deutschkenntnissen begleitet. Und die „Azubigruppe“ besteht aus Teilnehmern der Hauswirtschafts- und aus der Metallbauabteilung des IB-Bildungszentrums. So kann jeder Sprachschüler in den verschiedenen Gruppen nach seinen Bedürfnissen gefördert werden.

 

Erzählwerkstatt

Zu den Schwerpunkten des JMD Darmstadt gehört neben Einzelberatung, Berufsorientierung und verschiedenen Fortbildungsangeboten natürlich in erster Linie die sprachliche und kulturelle Integration. Hier vermitteltder JMD in Darmstadt in Jugendintegrationskurse, die in Trägerschaft des IB stehen und bietet auch ergänzendes Sprach- und Kommunikationstraining an. Weil Grammatik und Vokabeln noch keine Sprache ausmachen, bekommen die Jugendlichen nicht nur Zugang zu Gruppenkursen und Computer-Lernprogrammen, sondern auch zur Erzählwerkstatt. Bei diesem, wie es in der Fachsprache heißt, „niedrigschwelligen“ Angebot geht es weniger um die korrekte Grammatik, als um die Lust am Erzählen. „In der Erzählwerkstatt wollen wir die Leute da abholen wo sie gerade stehen“, erklärt Marion Kostial. „Viel zu oft bekommen sie nur ihre Schwächen aufgezeigt. In der Erzählwerkstatt werden die Jugendlichen nicht korrigiert. Wir bringen sie zum Erzählen - und auf einmal merken die, was sie alles können. Erzählen ist eine Methode sich den neuen Lebensraum zu erobern.“

 

Auch den Lebensraum Darmstadt lernen die Jugendlichen bei gemeinsamen Projekten besser kennen. Der Tag im Kletterpark gehört ebenso zum Programm wie Stadtführungen, Referate und Vorträge zu kulturellen, historischen und politischen Themen. Erzählwerkstatt und Sprachkurse greifen bei diesen Aktionen eng ineinander. Wer sich anfangs noch nicht an die neue Sprache herantraut, lernt im Rahmen sozialer Kompetenztrainings oder interkultureller Veranstaltungen damit umzugehen. Wenig später steht er vielleicht schon mit der eigenen Powerpoint-Präsentation über das Erlebte vor der Gruppe.

 

Kulturvermittlung im Sprachkurs

Wie sehr Sprachkurs, Erzählwerkstatt, individuelle Beratung und die themengebundenen Exkursionen ineinander greifen und die Integration des Einzelnen voranbringen, merkt man im Gespräch mit den Jugendlichen. In einer Klasse sitzen junge Migrantinen und Migranten von den Philippinen, aus Syrien, aus der Dominikanische Republik, aus Vietnam, Kolumbien, Äthiopien, Afghanistan, Iran, Irak, Litauen, Kamerun, Kenia, Eritrea und Sierra Leone. Sie lernen Grammatik und deutsche Geschichte, wiederholen Themen, die besonders interessieren und erzählen sich gegenseitig von ihren Heimatländern. Sie sehen gemeinsam Filme über ihre Herkunftsländer, bringen landestypisches Essen mit und lernen so Schritt für Schritt die eigene und andere Geschichten zu verstehen.

 

„... wie mir hier geholfen wird“

Jamshied

Jamshied aus Afghanistan nimmt mit den anderen am ergänzenden Sprach- und Kommunikationstraining teil. Der 21-jährige ist seinen Mitschülern schon ein paar Schritte voraus. 2004 kam er nach Deutschland. Seit dem nahm er an mehreren Deutschkursen teil, absolvierte ein Praktikum als Maler und Lackierer und eins bei der Bundeswehr. Dort hat er nun ein Angebot für eine Festanstellung. Deutschland ist bereits sein zweites Zuhause, sagt Jamshied. Gleichzeitig denkt er viel über seine Migrationsgeschichte nach. Er möchte seine Biographie aufschreiben und politisch etwas bewirken. Deshalb engagiert er sich auch beim afghanischen Migrationsverein. „Ich interessiere mich für Geschichte und Politik und stehe in Kontakt zu anderen Migrantenvereinen. Ich bin ein sozialer Mensch und ich bin ein helfender Mensch. Wenn ich kann, dann helfe ich. Genau wie mir hier geholfen wird.“

  

 

Jugendmigrationsdienst Darmstadt

Der JMD Darmstadt ist eine Einrichtung des Internationalen Bundes (IB), eines freien Trägers der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit. Zuständig ist der JMD für die Förderung der Integration von jungen Migrantinnen und Migranten zwischen 12 und 27 Jahren aus der Stadt Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg. Zu den Angeboten zählen neben der Beratung, die an unterschiedlichen Standorten angeboten wird, die individuelle Integrationsbegleitung mit dem Verfahren des Case Managements, die Durchführung von Gruppenangebote zu Orientierungshilfen im Bildungs- und Ausbildungssystem, PC-Kurse, Selbstlernzentrum (Sprachlernsoftware), weitere Sprachergänzungsangebote, Elternbildungsarbeit, Informationsveranstaltungen, Interkulturelle Trainings, Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus ist der IB Träger von Integrationskursen, die vor Ort statt finden. Beim JMD Darmstadt sind derzeit vier hauptamtliche Mitarbeiterinnen und sechs Honorarkräfte beschäftigt.

 

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