Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Was heißt es, die Wahl zu haben? Projekt zur politischen Bildung mit jungen Flüchtlingen

Politisches Bildungsprojekt, Crashkurs Baden-Württemberg und Sprachkurs in einem. Vor der Landtagswahl im März 2016 in Baden-Württemberg organisierte der jmd2start-Standort in Lahr (Ortenau) das Projekt Neuland.Wahl.

Teilhabe - ist das schon ein Thema für junge Menschen, die erst einmal in Deutschland ankommen müssen? "Allerdings! Die Teilnehmenden an unserem Projekt sind gerade deshalb einen ganzen Schritt mehr 'angekommen'", sagt jmd2start-Mitarbeiter Felix Neumann.

Politisches Bildungsprojekt, Crashkurs Baden-Württemberg und Sprachkurs in einem

"Wie funktionieren Wahlen in meiner neuen Heimat? Welche Rolle spielen politische Parteien?"

Teilhabechancen von jungen Flüchtlingen zu stärken, ist ein Ziel von jmd2start. Die Möglichkeit der politischen Teilhabe und das Wissen über das politische System in Deutschland sind dabei oft besonders schwierig zu vermitteln. Das Großereignis der Landtagswahl vom 13. März 2016 in Baden-Württemberg nutzte der jmd2start-Standort Lahr (Ortenau) für das politische Beteiligungsprojekt "Neuland.Wahl".

Umgesetzt wurde das Projekt im Zeitraum von Januar bis März 2016 mit wöchentlich ein bis zwei Terminen. In Kooperation mit der Gewerblichen Schule Lahr nahmen 12 junge Flüchtlinge aus sechs Ländern am Projekt teil. Neben einem „Crash-Kurs“ in Politik und Gesellschaft Baden-Württembergs standen auch Exkursionen zum Landtag in Stuttgart oder der Landeszentrale für politische Bildung auf dem Programm. Der gesamte Unterricht fand auf Deutsch statt - so war das Projekt für die jungen Flüchtlinge gleichzeitig noch ein Sprach- und Kommunikationskurs.  


jmd2start-Mitarbeiter Felix Neumann erklärt die Wahl auch spielerisch.

 

Kooperationspartner zuerst skeptisch

jmd2start-Mitarbeiter Felix Neumann musste im Vorfeld Überzeugungsarbeit bei den Kooperationspartnerinnen und -partnern leisten. „Einige waren skeptisch: Das Projekt sei zu schwierig für die Flüchtlinge, die Thematik Politik und Demokratie zu komplex.“ Für ein Pilotprojekt konnte Felix Neumann, der als Leiter der Musik- und Bildungsinitiative Zweierpasch bereits Erfahrungen in der politischen Bildungsarbeit mitbringt, schließlich die Partner überzeugen: die örtliche Gewerbeschule, das Bürgerbüro der Stadt Lahr, die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und der Jugendgemeinderat Lahr.

Im Projekt konnten sich die Jugendlichen von Anfang an einbringen: Ob bei der Erarbeitung eigener Raptexte zu Politik und Parteien oder bei der Vorbereitung eines PolitikerInnengesprächs mit LandtagskandidatInnen aus Lahr. In der Diskussion mit den Lahrer Kandidatinnen und Kandidaten konnte die Gruppe die aktuelle Diskussion zur Situation von Flüchtlingen in Baden-Württemberg mit eigenen Erfahrungen bereichern und somit als Experten und Expertinnen auf die möglichen Abgeordneten direkt einwirken.

Sie schilderten dabei Hoffnungen aber auch Ängste und Nöte. Ein gambischer Teilnehmer berichtete von seiner äußerst beklemmenden Wohnsituation, ein junger kosovarischer Flüchtling in fehlerfreiem Deutsch von seiner drohenden Abschiebung. Beide stehen kurz vor dem Hauptschulabschluss und haben feste Zusagen für Ausbildungsplätze. Sie fühlten den Kandidaten auf den Zahn, fragen nach ihren Lösungsansätzen und ihren Gestaltungsmöglichkeiten auf Landesebene.

Zur Sprache kommt auch Fremdenhass, der sich in Lahr auch durch Schüsse auf Flüchtlinge manifestierte. Klar wird: Die Projekteilnehmer möchten teilhaben, mitdiskutieren und identifizieren sich sichtlich mit ihrer neuen Heimat. Auch die Frage nach einem Wahlrecht für Migranten werfen sie auf. Sichtliche Denkanstößen für die Kandidaten, die, so wird deutlich, bisher nur wenig direkte Konfrontation mit den Realitäten des größten Wahlthemas der Landtagswahl hatten.

 

Teilnehmer und Teilnehmerinnen während eines Workshops bei der Landeszentrale für politische Bildung, Freiburg

 

Mehr Interesse an Politik und Partizipation

Die jungen Menschen bestätigen damit den Eindruck des jmd2start-Mitarbeiters. Bei der Auswertung zum Projekt gaben über 90 Prozent von ihnen an, dass Sprache und eingesetzte Medien „sehr gut verständlich" waren. Besonders erfreulich ist auch, das im Verlauf des Projekts die jungen Menschen immer mehr Interesse an Politik bekamen und sich gern stärker gesellschaftlich und politisch beteiligen wollen.

Eine Möglichkeit, das Wahlrecht wahrzunehmen, entdeckten die Teilnehmenden bei der U-18 Wahl in Lahr. Diese wurde ursprünglich entwickelt, um junge Menschen unter 18 Jahren an das Wählen heranzuführen und simuliert eine demokratische Wahl von der Stimmabgabe bis zur Ergebnisverkündung. Obwohl die jungen Flüchtlinge aufgrund der fehlenden deutschen Staatsbürgerschaft nicht an der offiziellen Landtagswahl teilnehmen durften, konnten sie hier, wie andere Jugendliche aus Lahr, ihre Stimme abgeben. Auf Initiative des JMD Lahr wurde die U18 Wahl in Baden-Württemberg erstmals auch explizit für Geflüchtete geöffnet.

Felix Neumann bewertet das Projekt in seiner Vielfalt an methodischen Ansätzen als Erfolg und macht Kolleginnen und Kollegen in der Flüchtlingssozialarbeit Mut, sich auch an anspruchsvollen Projektideen zu versuchen. Zwar braucht es einiges an Vorbereitungszeit, gerade in der Ansprache von Kooperationspartnern und vielbeschäftigter Politikerinnen und Politikern, doch: „Es lohnt, den Versuch dennoch zu wagen. Für ein Modellprojekt wie jmd2start sollen neue Wege beschritten werden. Diese Idee lag dem Projekt Neuland.Wahl von Beginn an zu Grunde.“

Kontakt und Infos:

jmd2start Lahr/Ortenau, E-mail: felix.neumann@diakonie.ekiba.de

 

 

Bildnachweis für die Abbildungen:

F.Neumann-jmd2start und Lichtgut/ Leif Piechowski, 2016 

 

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