Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Von der Ratsuchenden zur JMD-Kollegin: So geht Integration!

Ginan Al Hussein und ihre Kolleginnen im Jugendmigrationsdienst (JMD) Solingen machen vor, wie sprachliche und berufliche Integration gelingt. 2015 kam die junge Frau aus Syrien erstmals zur Beratung. 2019 ist sie als FSJ-lerin am Empfang die erste Kontaktperson für Ratsuchende im Gebäude des JMD und im Herbst 2021 beginnt Ginan Al Hussein genau hier ihre Ausbildung zur Bürokauffrau.

Ayça Okçu-Seçer (l.) und Ginan Al Hussein (r.) sind mittlerweile Kolleginnen im JMD Solingen.

Jugendmigrationsdienst Solingen, wir sitzen im Konferenzraum im ersten Stock. Sonnengelb gestrichene Wände, hohe Decken und eine freundliche Atmosphäre. „Was ich an Deutschland besonders mag ...“ Ginan Al Hussein lässt sich Zeit mit der Antwort. Sie überlegt. Wenn sie überlegt, dann kippt sie ihren Kopf ein bisschen zur Seite und rollt die Augen Richtung Zimmerdecke. Aber dann schaut sie bei diesem Interviewtermin schon wieder stracks nach vorne. „Ich weiß!“ Sie lächelt strahlend. „Also erstens: Keiner mischt sich in mein Leben ein – ganz anders als in Syrien, wo fremde Meinungen oft eine größere Rolle spielen.“

Flucht nach Deutschland und erste Schritte in Solingen

Ein Rückblick. 2014 flüchtet die 20-jährige Ginan mit ihren Eltern und Brüdern nach Deutschland. 2015 nimmt sie auf Anraten des Jobcenters das erste Mal Kontakt zum JMD Solingen auf und heute, sieben Jahre später, sitzt sie wie selbstverständlich in diesem sonnengelb-leuchtenden Konferenzraum neben ihrer langjährigen Beraterin und jetzigen Arbeitskollegin Ayça Okçu-Seçer. Aber noch mal von Anfang an: Damals, im April 2015 also, betritt Ginan zum ersten Mal die hellen Räumlichkeiten des JMD-Hauses Am Neumarkt 50a – den Altbau mit den knarzenden Böden, der schon vielen jungen Menschen mit Migrationshintergrund bei ihren ersten Schritten in Deutschland Halt unter den Füßen gegeben hat. Die ersten Schritte in Deutschland, das heißt Anträge stellen und Dokumente ausfüllen. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Antrag auf Asylbewilligung. Wenn der genehmigt ist, dann zur Ausländerbehörde: den Aufenthaltstitel abholen und die Verpflichtung zum Sprachkurs unterschreiben. Beim Jobcenter: Antrag auf Grundleistungen stellen. Außerdem müssen die Zeugnisse aus Syrien anerkannt und Plätze in Sprachkursen gefunden werden. Ginans jüngsten Bruder Hassan, damals 15 Jahre alt, kann Ayça Okçu-Seçer, Sozialberaterin beim Jugendmigrationsdienst, in einer Schule anmelden helfen. Ginan und ihr älterer Bruder sind dafür bereits zu alt. Sie beginnen beim Träger des JMD Solingen, dem Internationalen Bund, ihre Deutschkurse. B1, B2 und schließlich sogar C1.

Übung macht die Meisterin

„Sie spricht ja schon perfekt Deutsch, also, das ist wie Muttersprachenniveau“, sagt Ayça Okçu-Seçer. Ginan sei von Anfang an unheimlich fleißig gewesen und habe sich nicht einschüchtern lassen, wenn Ayça Okçu-Seçer mal einen Satz von ihr korrigiert hat. Ganz im Gegenteil. „Sie merkt sich das. Und das nächste Mal sehe ich, dass sie diesen Satz perfekt sagt. Das ist die Motivation, die sie mitbringt. Und die Motivation braucht man eben.“ Die beiden Frauen lächeln sich an, sie verstehen sich.

Beratung und Begleitung in allen Lebenslagen

Damals treffen sich Ginan, die Klientin, und Ayça, die Beraterin, mindestens einmal die Woche in Okçu-Seçers Büro – also im Halbparterre, mit Blick auf den Hof und in den Himmel. „Sie ist wie eine Mutter für mich, nur im Büro“, erzählt Al Hussein mit fliegenden Händen und strahlendem Lächeln. „Wenn ich in der Beratung bin und was Schlimmes erzähle oder hoffnungslos bin vor einer Sache, dann hat sie eine Methode, dass sie mir die positiven Seiten zeigt und sie verkleinert meine Probleme.“ Noch einmal dieses befreite Lachen bei Ginan Al Hussein und ein stilles Lächeln bei Ayça Okçu-Seçer. Für sie ist strukturiertes Vorgehen das A und O in der Beratung. „Ich glaube, dass die Jugendlichen sich manchmal sehr große Ziele setzen. Und diese kann man in kleinere Schritte aufteilen.“ Viele seien darüber hinaus überfordert mit den Möglichkeiten in Deutschland. „In vielen Ländern ist es so, dass man nach dem Abitur gleich ein Studium machen muss, hier kann man eine Ausbildung anfangen. Was gibt es alles für Ausbildungsmöglichkeiten – das ist ein hoher Berg und man weiß nicht so gut, wo sind meine Kompetenzen. So dass wir erstmal die Stärken und Schwächen der Jugendlichen herausfinden.“

Ihre Beratung öffne Perspektiven, glaubt Okçu-Seçer: „Wenn ein Lebenslauf geschrieben werden soll, dann schreibt Ginan ihren Lebenslauf und ich korrigiere. Oder Bewerbungen, wir schreiben das zusammen, sie formuliert ihren Satz, ich schreibe ihn ein bisschen um, aber der Inhalt ist derselbe.“ So fühlten sich die jungen Menschen in ihrer Beratung gestärkt und sähen: Ach, ich kann das doch! „Wenn man sieht, man schafft das, dann fühlt man sich in der neuen Heimat viel besser.“ Okçu-Seçer ist im siebten Jahr beim IB Solingen als Sozialberaterin tätig und betreut bis zu 100 junge Menschen gleichzeitig. Sie ist eine von insgesamt vier Beraterinnen an dem JMD-Standort.


Seit über sechs Jahren arbeitet Ayça Okçu-Seçer beim IB Solingen. Die eigene Biografie hilft ihr täglich bei ihrer Arbeit mit jungen Menschen.

Aller Anfang ist schwer

Wie schwierig so ein Neuanfang in einem fremden Land ist, das weiß Ayça Okçu-Seçer aus eigener Erfahrung. In der Türkei geboren, fängt sie als Achtjährige das erste Mal ein neues Leben an. Damals ziehen ihre Eltern mit ihr nach Deutschland. Sie wächst in Schwaben auf, lernt Deutsch und geht zur Schule. Als 16-Jährige kehrt sie mit ihren Eltern zurück an den Bosporus – für sie kein Problem, denn Türkisch ist die Familiensprache und sie fühlt sich sofort wieder heimisch. Aber es geht auch anders, das erlebt sie bei ihrem deutsch-türkischen Ehemann, der ebenfalls als Jugendlicher zurück in die Türkei kommt und große Probleme hat sich zurechtzufinden. Der gemeinsamen Kinder wegen zieht das Ehepaar zurück nach Deutschland. Wieder ein Neuanfang für die heute 52-Jährige. Ihre eigene Biografie hilft ihr täglich im Umgang mit den jungen Ratsuchenden. Viele begleitet sie im JMD über viele Jahre hinweg. „Es ist so schön zu sehen, wie sie im Laufe der Zeit wachsen – nicht nur sprachlich, sondern gerade auch als Persönlichkeiten.“

Von der Klientin zur Kollegin

Zurück zu Ginan, die damals zunächst ihre Deutschkenntnisse ausbaut. Die Begleitung durch den JMD während der Zeit der Sprachkurse, das ist das eine. Immer wieder Mut zu machen beim Schreiben von Bewerbungen, vor Vorstellungsgesprächen und nach Absagen durch potenzielle Arbeitgeber, das ist das andere. Damit Ginan die Zeit sinnvoll nutzen kann, schlägt Okçu-Seçer ihr vor, ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Büro des JMD zu machen. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln und ihrer herzlichen Art ist eine Bereicherung für das Team. Und sie sorgt dafür, dass neben Englisch, Türkisch, Italienisch, Französisch und Spanisch jetzt auch Arabisch als Sprache im JMD Solingen vertreten ist. An ihrem Arbeitsplatz, dem Empfang, bereitet Ginan darüber hinaus allen Hereinkommenden das Willkommensgefühl, das Hilfesuchende brauchen. Für die FSJ-lerin ist es anfangs ein Sprung ins kalte Wasser – denn Empfang bedeutet auch: Anrufe entgegennehmen, oftmals auf Deutsch. Unerschrocken fragt Ginan nach, wenn sie am Telefon etwas nicht verstanden hat. Auch fragt sie nach, wenn sie Aufgaben im Büro nicht versteht oder eigene Ideen in den Arbeitsablauf einbringen möchte.


Herzlichkeit, Fleiß und eine positive Einstellung sind nur einige der Eigenschaften, die Ginan Al Hussein geholfen haben, in Deutschland anzukommen.

Absagen und neue Chancen

Nebenbei schreibt sie Bewerbungen in alle Richtungen – weiterhin ohne Erfolg. Schließlich wandelt Betriebsstättenleiter Micha Thom, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung des IB Solingen, Anfang dieses Jahres das FSJ in eine sogenannte EQ um. EQ steht für Einstiegsqualifizierung und ist eine berufsvorbereitende Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit. Eine Art Vorläufer für eine Lehrstelle. Ginan darf im Rahmen ihrer EQ zur Bürokauffrau sogar zweimal die Woche zur Berufsschule gehen – wie eine richtige Auszubildende. Eine Ehre und Riesenchance, sagt sie – auch wenn sie für dieses halbe Jahr keine Noten und kein Zeugnis bekommt.

Wieder zurück in den Konferenzraum des JMD. „Was ich an Deutschland besonders mag? Erstens: Keiner mischt sich in mein Leben ein. Und zweitens: Jeder von uns kann alles machen. Deine Chancen sind in Deutschland größer als in Syrien.“ Ihre Augen strahlen. Ginan Al Hussein ist angekommen.

Angekommen und typisch deutsch

Sieben Jahre nach ihren ersten Schritten in Deutschland wird die einstige Neuangekommene, die langjährige Klientin, die ehemalige FSJ-lerin und noch EQ-lerin Ginan Al Hussein ihre Ausbildung zur Bürokauffrau beginnen – am selben Standort. Die Lehrstelle ist in der Verwaltung des IB Solingen angesiedelt, aber Ginan Al Hussein behält ihren Arbeitsplatz im Büro des Jugendmigrationsdienstes – genau dort also, wo einst ihre Beratung begann. Die Verträge liegen bereits unterschrieben in der Personalabteilung. In ihren sieben Jahren in Deutschland hat Ginan Al Hussein verstanden, was für ein dauerhaftes Leben hier wirklich zählt. „Meine Lehrerin an der Berufsschule hat mir bescheinigt, dass ich ein halbes Jahr am Unterricht teilgenommen habe. Diesen Nachweis brauche ich später für meinen Rentenbescheid.“ Schallendes Gelächter am Ende dieses Interviewtermins im sonnengelb gestrichenen Konferenzsaal des JMD Solingen. Mit 27 schon an die vollständigen Rentenunterlagen denken? Das ist so richtig typisch deutsch.

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Text und Bilder: Servicebüro Jugendmigrationsdienste