Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Fühlt sich wie sterben an

Ein Bericht zum beeindruckenden Musical "Zwischen den Welten – Zerrissen" mit Jugendlichen aus dem JMD Köln (IB).

Geflüchtete und Einheimische haben das Stück gemeinsam erarbeitet. Die Premiere war am 10. Juli 2017 in der Kölner Essigfabrik.

"Zwischen den Welten – Zerrissen"
Ein Musical mit Jugendlichen aus dem JMD Köln (IB)

Samira war als Kind ein Wirbelwind. Sei wie du bist, betonte ihre Mutter stets.

 
Die kleine Samira will "Kosmonistin" werden, aus purer Neugier und Tatendrang. Im All fliegen, die Welt erkunden und was man sonst noch so als Kosmonistin zu tun hat. „Ich verstehe, dass du dir dann Sorgen machst, das brauchst du nicht, Mama!“ Gemeint hatte die Mutter eigentlich, Samira soll ja keine Kommunistin werden. Immer zu sich stehen, man selbst sein und seinen eigenen Werten treu bleiben. Dabei wäre es manchmal doch einfacher, sich anzupassen, nicht anzuecken und in Frieden zu leben, oder?


Wie viele Jugendliche in ihrem Alter, ist Samira eine energische, wissbegierige und rebellische junge Frau. Musik, Tanzen, Freunde – Spaß haben, das Leben genießen. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden hinterfragt sie vieles, was ihr vorgelebt wird. Genervt von Regeln und im regelmäßigen Streit mit ihrer Religionslehrerin, versucht sie ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. „Ich kann da so schlecht aus meiner Haut!“ erklärt sie. In welchem Land Samira lebt, wissen wir nicht. Denn das ist nicht wichtig. Klar ist nur, es gibt Anschläge, Krieg und ihre rebellische Phase bringt sie immer wieder in Gefahr.
 

Bitte schickt mich nicht weg

Die Mutter, die stets betonte, zu sich selbst zu stehen, ist nun im Zweifel. Sich treu bleiben und Gefahr laufen, verhaftet zu werden oder sich anpassen und nicht mehr man selbst sein? Hätte sie ihrer Tochter mehr von dem einen, weniger von dem anderen beibringen müssen?
Es ist klar, Samira soll in Sicherheit sein. Sie soll sich entfalten können: „Steh zu dir selbst, das kannst du dort viel besser!“ Dort! Dort ist Deutschland. Ohne Krieg. Ohne Sittenwache. Ohne was? Ohne Eltern, Freunde, Heimat. Die Tochter wehrt sich, doch es ist schon zu spät. Ihr soll es mal bessergehen.

„Ich sehe sie noch, ich kann sie noch aufhalten“, weint der Vater. Zerrissen zwischen Liebe und Sorge. Für eine Flucht der ganzen Familie reicht das Geld nicht aus. Also Kind wegschicken oder bleiben lassen? Welche Gefahr ist größer? Sind wir gute Eltern?

 

Es fühlt sich wie sterben an,
wenn du gehst.
Fühlt sich wie sterben an,
alles zu spät.
Es fühlt sich wie sterben an,
wenn du fehlst.
Bitte bleib hier.

(Glashaus)

 

Im neuen Zuhause hat Samira ein eigenes Zimmer mit Bett und Schreibtisch. „Viel hast du ja nicht mitgebracht“, sagt die Vermieterin zur Begrüßung.

 
Die Straßenschilder sind auf Deutsch. Die Welt steht Kopf. Samira stößt auf neue Regeln, ist zu laut, entspricht nicht den Erwartungen ihrer Gastfamilie. Ist sie nicht ein Opfer des Krieges? Warum benimmt sie sich so und nicht so? Hat sie eigene Vorstellungen vom Leben?

Mit Eintritt in das neue Leben, ohne Eltern, verabschiedet sich die junge Frau von ihrem inneren Kind. Sie wird reifer, vorsichtiger. Dennoch im neuen Zuhause ein Störenfried, bei neuen Freunden die Fremde aus dem Land mit spannenden Geschichten aus einer anderen Welt. „Erzähl doch mal!“ Nein, bricht es aus ihr raus. Ich bin mehr als das! Laut, laut, laut soll die Musik sein. Tanzen, vergessen. Doch es ist nicht leicht, zu feiern, wenn zeitgleich Bomben auf den Straßen in der Heimatstadt explodieren.
 

Mein Mädchen, es ist alles in Ordnung

Darf ich hier in Sicherheit leben? Bin ich undankbar, wenn ich hier nicht glücklich bin? Bin ich eine schlechte Tochter, dass ich meine Eltern allein lasse? Die Telefonate in die Heimat beginnen mit Lügen und enden mit Lügen. Bitte mach dir keine Sorgen. „Ja, Papa, mir geht es gut.“ „Mein Mädchen, hier ist alles in Ordnung. Du weißt ja, die Medien übertreiben bei den Anschlägen. Es ist alles schon viel ruhiger geworden.“

Das Leben geht weiter. Freunde treffen, rumhängen, quatschen, Spaß machen, Videos gucken. Kurze Momente vom alltäglichen Jung sein. Die erste Liebe, der erste Liebeskummer. Einsamkeit und Trauer, welch Jugendliche kennen das nicht?

Dann die Nachricht: Mama hat es nicht geschafft.
Die nächste Flucht, lauf, lauf, schnell, zurück zu Papa. Ich will nur bei euch sein. Warum hast du es mir nicht früher gesagt?


Und die Welt dreht sich weiter
und dass sie sich weiter dreht
ist für mich nicht zu begreifen,
merkt sie nicht,
dass einer fehlt?
Haltet die Welt an,
es fehlt ein Stück.
Haltet die Welt an,
sie soll stehen.

 

(Glashaus)


Alles gleich und alles anders. Es passt nicht mehr zu Hause. Mama fehlt, Papa trauert.
Sie ist europäisiert, lästern die anderen. Das kannst du hier nicht machen, fordert die Freundin. Warum bist du zurückgekommen, du hältst dich nicht an die Regeln. Hier läuft es anders als in Deutschland. So bist du keine Unterstützung, schreit der Vater. Ich will doch nur ich sein!

Der Freund aus Kindertagen hat ein Bein verloren. „Du warst im Krieg?“ Ja, ein Mann muss doch für sein Land kämpfen. Nein! Mut ist, wenn man ehrlich zu sich ist. Seine eigenen Werte verteidigt, nicht die irgendeines Regimes. Zu sich selbst steht und für sich eintritt.
Doch..., wer bin ich überhaupt?

Samira ist eine starke junge Frau, die zwischen Krieg, Flucht und Erwachsenwerden hin- und hergerissen ist.

 

„Zwischen den Welten – Zerrissen“ – das beeindruckende Musical von music4everybody e.V. in Kooperation mit dem JMD Köln (IB)

11.07.2017, Köln - Gestern feierte ein erstaunliches Schauspiel Premiere in der Kölner Veranstaltungshalle Essigfabrik. Jugendliche Geflüchtete und gleichaltrige Einheimische standen gemeinsam auf der Bühne. Sie sangen (u.a. Stücke von Glashaus), tanzten, schauspielerten und zeigten dem Publikum ein selbst erarbeitetes Stück. Mit lautem Beifall starteten die insgesamt 35 jungen Künstlerinnen und Künstler ein bewegendes Musical mit autobiographischen Zügen. Hier haben uns junge, mutige Menschen auf eine emotionale Reise mitgenommen. Der Titel „Zerrissen“ passt dabei auf vielen Ebenen. Nicht nur die junge Samira fühlt sich hin- und hergerissen. Auch die Eltern entscheiden stets auf einer wackeligen Basis. Schnell kann der Boden unter den Füßen wegreißen. Und selbst das Publikum ist „zerrissen“ zwischen Trauer, Mitleid, Freude und Erstaunen. Man will mittanzen, mitsingen, die Energie der Jugendlichen zieht einen an. Doch die Leichtigkeit ist nur für einen Moment, unbeschwert ist niemand da oben in der Geschichte auf der Bühne. Man wünscht sich ein fröhliches Ende und weiß doch, dass das kaum mehr möglich ist.

Mit einem großen Einfühlungsvermögen haben die Jugendlichen und mit Ihnen die Dozenten, Projektleiter und Kooperationspartner ein unvergleichliches Musical dargeboten. Standing Ovations und ein Publikum, dass mitgelacht, mitgeweint und mitgehofft hat, bleibt nachdenklich zurück, zerrissen zwischen Respekt vor dem Mut und der Trauer über diesen.

Kooperationspartner von music4everybody e.V. und  dem JMD Köln/JMD2Start (IB ) sind:

  • die Jugendlichen und Werkanleiter der Jugendwerkstatt Köln Nippes, die zusammen mit den Projektteilnehmer*innen  das grandiose Bühnenbild gebaut haben
  • das Jugendzentrum der Jugendzentrums gGmbH JugZ  in Köln Gremberg, wo geprobt wurde
  • die Bonner Entertainment GmbH Out4Fame, die das Projekt filmisch begleitet
  • die Kölner moStar Promotion GmbH mit ihrer Kultur-und Kreativwirtschaft, die die Aufführungshalle in Köln zur Verfügung stellte

Weitere Informationen zum Projekt. Der nächste Auftritt findet am 13. Juli im Schauspielhaus Düsseldorf statt.

Weitere Informationen zum JMD Köln (IB)