Bild mit vier weiblichen Jugendlichen

Offener Lerntreff als Türöffner zur Integration: Erfolgsmodell seit 12 Jahren

Der offene Lerntreff des JMD Ulm ist mehr als ein Lernort: Er bietet jungen Zugewanderten individuelle Unterstützung, Beratung und Chancen. Dank dieses Angebots haben Rawaa aus Syrien und Ehsan aus Afghanistan, zwei engagierte Jugendliche, eines von 55 Begabtenstipendien im Programm „Talent im Land“ erhalten.

Vier Personen schauen freundlich in die Kamera. Neben ihnen lehnt eine Tafel, auf der steht: Herzliche Willkommen zum Lerntreff West. Auf der Tafel ist auch das Logo der Jugendmigrationsdienste und von IN VIA zu sehen.
Ehsanalla Momen (v. l.) und Rawaa Oyoun sind Stipendiaten des Förderprogramms „Talent im Land“. Melanie Brumann und Jürgen Kohler haben sie dabei unterstützt. (Foto: Weicheng Chen)

Gut, besser, „Talent im Land“: „Das ist eine mega Auszeichnung“, freut sich Sozialarbeiterin Melanie Brumann über den Erfolg der 17-jährigen Rawaa Oyoun und des ein Jahr älteren Ehsanalla Momen. Beide haben eines von 55 Stipendien beim Förderprogramm „Talent im Land“ erhalten, das sich für gerechte Bildungschancen für begabte Schüler*innen in Baden-Württemberg einsetzt. Mit finanzieller Unterstützung, weiterbildenden Seminaren und individueller Beratung werden sie dabei auf dem Weg zur Fachhochschulreife oder zum Abitur begleitet. Träger sind die Baden-Württemberg Stiftung und die Josef Wund Stiftung. Dreh- und Angelpunkt für diesen Erfolg: der offene Lerntreff des Jugendmigrationsdienst Ulm (IN VIA). Für beide, die gebürtige Syrerin und den Afghanen, ist er ein fester Anlaufpunkt. Nicht nur, dass ihnen bei ihrer Bewerbung geholfen werden konnte, vielmehr erhalten sie dort auch Unterstützung beim Lernen und individuelle Beratung.
 

Niedrigschwelliges Angebot

Über den offenen Lerntreff sagt Organisatorin Melanie Brumann, die mit Kornelia Zorembski und Beate Krieger für den JMD Ulm tätig ist: „Es ist ein niedrigschwelliges Angebot.“ Man müsse sich nicht festlegen, komme mit den Hausaufgaben und erhalte Hilfe. Zwischen 15 und 20 Schüler*innen würden den Lerntreff im Schnitt besuchen. Betreut werden sie von so genannten Lernbegleiter*innen. Das Besondere: „Immer mehr von ihnen haben selbst eine Fluchtgeschichte“, sagt die Sozialarbeiterin. 

So wie Ehsanalla Momen, den alle Ehsan nennen, und der inzwischen andere beim Lernen unterstützt. 2022 ist er mit seiner Mutter und zwei Geschwistern aus seiner Heimat Afghanistan nach Deutschland gekommen. „Man kann nicht so schnell in eine Kultur hineingehen oder sich so schnell gewöhnen“, meint er aus eigener Erfahrung. „Es ist schwierig wegen der Sprache“, erzählt der heute 18-Jährige, der in Kabul nur die neunte Klasse beenden konnte. „Viele haben Probleme“, resümiert Melanie Brumann. Sie spricht von großen Hürden, ins deutsche Schulsystem überzutreten. Doch genau da kann der offene Lerntreff des JMD helfen. Durch das Angebot würden sich darüber hinaus auch erste Beratungskontakte ergeben.

Zwei Frauen und ein Jugendlicher sitzen an einem Tisch in einer Art Seminarraum. Vor ihnen liegen ein Block und Buch. Im Hintergrund sind unscharf weitere Personen sichtbar, die augenscheinlich gemeinsam lernen.
Klarissa Dehring und Melanie Brumann (v. l.) vom JMD Ulm unterstützen Aref Mohammad bei seinen (Lern-)Zielen. (Foto: Manuela Rapp)
 

Ein Geben und Nehmen

Einer der drei Lerntreff-Standorte ist das Ulmer Bürgerhaus-Mitte. Zweimal in der Woche, jeweils ab 15 Uhr, füllen sich die beiden Räume im ersten Stock. Bücher, Blätter auf den Tischen, leise Erklärungen – hier wird gelernt. Oft paarweise. Ungefähr 15 Schüler*innen dürften es an diesem Mittwoch sein. Einer von ihnen: der 18-jährige Aref Mohammad. „Ich kann meine Hausaufgaben hier machen“, erklärt er mit Hilfe seiner Lernbegleiterin Muzhda. Beide stammen aus Afghanistan. Heute geht es um Deutsch, Englisch und Mathe. Er komme immer mit einem Freund, erzählt er. „Es ist schön, mit anderen zu lernen.“ Die Schule mit einem Abschluss beenden und eine Ausbildung als KfZ-Mechatroniker beginnen, das, sagt Aref Mohammad, sei sein Ziel. Lernbegleiterin Muzhda hat in ihrer Heimat Gesundheitswesen studiert. Für die 24-Jährige, die sich ehrenamtlich im Lerntreff engagiert, ist es ein Geben und Nehmen. „Ich helfe gerne“, betont sie. Denn: Auch sie werde hier unterstützt – etwa in Deutsch. Um ihren Beruf ausüben zu können, brauche sie Niveau B2.

Für Melanie Brumann ist es „ein Erfolg, dass Lernbegierige einen Ort zum Lernen haben.“ Die Idee dazu kam von der Stadt Ulm, der katholische JMD-Träger IN VIA griff sie auf und bewarb sich. Der Grund dafür liegt nahe: „Lerntreffs sowie ein großes Sprach- und Lernförderangebot sind ein relativ großer Projektschwerpunkt bei uns.“ Viele, die in den offenen Lerntreff kommen, besuchen laut Melanie Brumann Deutschlernklassen. „Das hat sich etabliert“, erläutert sie. Dort arbeiten sie und ihre beiden Kolleginnen mit Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen zusammen, besuchen Schulen, informieren über ihre Angebote. Aber auch über Mund-zu-Mund-Propaganda werde Werbung gemacht. Für die Organisatorin des Lerntreffs ist das Angebot eine Tür zur Integration. „Das hier ist ein Netzwerk für Hilfe, das alle trägt.“ Das gelte auch für die Lernbegleiter*innen, die teils ehrenamtlich oder auch als Honorarkräfte arbeiten. Melanie Brumanns Ziel: „Bindungen hier stärken.“ Wer sich sicher fühle, sei auch offen für Integration. 
 

Umgangssprache Deutsch

Die größten Lernenden-Gruppen seien im Moment Menschen aus Syrien und Afghanistan, „aber wir bilden alle Zuwandernden ab“, sagt Melanie Brumann. Was sie festgestellt hat: Vor allem bildungsorientierte 16- bis 18-Jährige, die eine Ausbildung erreichen wollen, würden vorbeischauen. Umgangssprache ist Deutsch; manchmal sei es jedoch einfacher, bestimmte Lerninhalte in der Muttersprache zu erklären. Klarissa Dehring kann dies als Ansprechpartnerin vor Ort einschätzen. Sie kennt die Bedarfe der Lernenden und die Unterstützungsmöglichkeiten der Lernbegleiter*innen – und kann so die besten Lernteams „matchen“. Brumann ist überzeugt: „Unsere Lernförderung fruchtet.“ Besonders stolz ist sie dabei auf die beiden Stipendiat*innen Rawaa und Ehsan.

Eine junge Frau und ein junger Mann, festlich und offiziell gekleidet, schauen freundlich in die Kamera. Im Hintergrund sind viele Menschen bei einer Veranstaltung zu sehen.
Rawaa und Ehsan bei der Festveranstaltung des Stipendienwerks „Talent im Land“. (Foto: Jürgen Kohler)

Die beiden „Talente im Land“ jedenfalls sind ehrgeizig und motiviert – beste Voraussetzungen, um ihre beruflichen Pläne zu verwirklichen. „Ich habe die Chance, hier zu lernen“, freut sich Rawaa. Es ist das Wichtigste im Leben für die 17-Jährige, zu deren Hobbys Zeichnen, Volleyball und Klavierspielen zählen. So ähnlich formuliert es auch Ehsan: „Ich bin wegen der Schule und des Lernens hier in Deutschland.“ Beide besuchen im Moment die zehnte Jahrgangsstufe der zweijährigen Berufsfachschule in Ulm. Sie teilen zudem das Ziel, Medizin zu studieren. Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Rawaa lebt ebenfalls seit 2022 mit Mutter und zwei Brüdern in Deutschland. Teile der Familie seien in der Türkei geblieben. Rawaa sagt, dass sie Familie und Freunde vermisse, erzählt aber auch von neuen Bekannten, „die sehr lieb sind.“ Heimweh ist ein Gefühl, das Ehsan auch kennt, aber: „Ich möchte mein Leben selbst gestalten“, betont der Afghane, der gerne Fußball spielt, liest und wandert. 
 

Unterstützung und Ermutigung

Der JMD ist für die beiden ein fester Anlaufpunkt. „Früher war ich Schüler, jetzt bin ich Lernbegleiter“, sagt Ehsan. Der 18-Jährige bedankt sich für die vielen verschiedenen Angebote und Deutschkurse. „Wenn ich Hilfe brauche, wenn ich Probleme habe, bekomme ich hier immer Unterstützung und Ermutigung“, unterstreicht auch Rawaa.

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Text: Servicebüro Jugendmigrationsdienste